Abenteuer Soziologie
Die Aufgabenstellung des Arbeitsbereichs Allgemeine Soziologie
am Institut für Soziologie
der Philipps-Universität Marburg.
(Auszug aus der Studienbroschüre „Soziologie in Marburg“)
Allgemeine Soziologie, Soziologische Theorien, Geschichte der Soziologie
Herkömmliche Trennlinien zwischen Allgemeiner Soziologie und speziellen Soziologien, wie sie sowohl durch die Studien- und Prüfungsordnungen als auch durch die Bezeichnung der Verantwortlichkeiten der einzelnen Lehrenden suggeriert werden, spiegeln nur eingeschränkt die tatsächlichen Zuordnungen im internationalen Feld der wissenschaftlichen Soziologie wieder. Für den eingespielten universitären Lehrbetrieb scheinen sich jedoch die Markierungen zwischen Allgemeiner Soziologie und speziellen Soziologien, zwischen theoretischer und empirischer Soziologie, auch zwischen quantitativen und qualitativen Paradigmata unverändert zu bewähren. Aufgabe des Lehr- und Forschungsprogramms der Allgemeinen Soziologie muß demnach zweierlei sein: Zum einen die Übernahme der Theorieausbildung in den Studiengängen Soziologie, zum anderen die Koppelung dieses Angebots mit der Aufgabe, den Studierenden einen Eindruck davon zu vermitteln, daß sich soziologische Theorien auch an der speziellen Untersuchungsthematik zu bewähren haben und daß sich empirische Methodologien am theoretischen Blick legitimieren lassen müssen. Das theoriegeleitete Profil des Bereiches Allgemeine Soziologie an unserem Institut soll Absolventinnen und Absolventen nicht zu bloßen Theorie-Exegeten heranbilden, sondern einen soziologischen Blick einüben, den unser Fach auch auf sich selbst anwenden muß.
Allgemeine Soziologie
In den thematischen Bereich der Allgemeinen Soziologie gehören die Grundfragen der Soziologie, wie Theorien des sozialen Handelns, der Sozialstruktur, der sozialen Ungleichheit, des Gesellschaftsvergleichs, des Wandels von Gesellschaften, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung usw.. Zur wissenschaftlichen Beantwortung solcher Grundfragen werden in der Soziologie theoretische Konstruktionen entwickelt, in denen übergreifende Aspekte von umfassenden Gesellschaftstheorien und Theorien mittlerer Reichweite auf angewandte soziologische Gebiete aufgenommen werden. Die Festlegung eines eigenständigen Studiengebietes Allgemeine Soziologie läßt sich also nicht mit einem besonderen Gegenstandsbereich begründen, sondern nur mit der besonderen Aufmerksamkeit, die sie den theoretischen Grundlagen des Faches, den übergreifenden Begriffen und theoretischen Zusammenhängen, unabhängig von anwendungsbezogenen Eingrenzungen, widmet.
Die Allgemeine Soziologie bewegt sich üblicherweise auf unterschiedlichen Aggregations- oder Abstraktionsebenen:
(1) Auf der Makroebene, der Ebene hoch abstrakter begrifflicher Einheiten und gesamtgesellschaftlicher Phänomene, werden die Daten aus verschiedenen Beobachtungsebenen zu größeren gesellschaftlichen Einheiten und Tatbeständen zusammengefaßt. Hier sind z. B. angesiedelt: die Analyse der westlichen oder der deutschen Gesellschaft, die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft oder der Wandel in modernen Industriegesellschaften, die Grundlagen der Sozialstruktur im System gesellschaftlicher Ungleichheiten und Arbeitsteilung, Wirtschaft, Medien, Hochschulen und andere Institutionen als Faktoren gesellschaftlicher Reproduktion und Integration, das allgemeine Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, Widersprüche und Wandel allgemeiner Werte und Normen usw.
(2) Auf der Mikroebene werden u. a. behandelt: kleinformatige Prozesse sozialen Handelns, die Entstehung sozialer Interdependenzen zwischen Individuen, die Entstehung sozialer Normen, das Verhältnis zwischen sozialen Rollen, Struktur und Wandel von Kleingruppen, Ursachen und Folgen elementarer Austausch-, Kommunikations-, Über- und Unterordnungsprozesse u. dgl.
(3) Von beiden Ebenen läßt sich, je nach Perspektive, noch eine Intermediäre Ebene unterscheiden mit Gegenständen wie: Formen und Regeln des Übergangs der kollektiven Folgen individueller Handlungen in Strukturen, die dem Individuum wiederum als gesellschaftliche Zwänge oder Handlungsopportunitäten gegenübertreten, vermittelnde soziale Netzwerke, Gruppen, Organisationen und Verbände; soziale Situationen und Regionen, in denen das Handeln von Individuen und kleinen Gruppen koordiniert wird, räumlich-ökologische Kontexte, die Bedingungen für die Variation von Phänomenen auf der Mikroebene setzen.
Von solchen prinzipiellen Einteilungen ausgehend, lassen sich die Lehrinhalte und Lernziele der Allgemeinen Soziologie prinzipiell bestimmen:
(1) Wissenschaftstheorien und Gesellschaftstheorien
Fundierte Kenntnisse mehrerer, derzeit im Fach Soziologie und angrenzenden Fächern wichtiger unterschiedlicher Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien, ihrer historischen Entwicklung und ihres gesellschaftlichen Bezuges. Die Fähigkeit zum kritischen Umgang mit ihnen ist ein ebenso wichtiges Ausbildungsziel wie das der Wissensvermittlung.
(2) Soziologische Theorien
Fundierte Kenntnisse der dominanten Theorierichtungen in der aktuellen internationalen und deutschen Soziologie, wobei die Kenntnis der jeweils zentralen Grundbegriffe und Methoden integraler Bestandteil der Behandlung der verschiedenen theoretischen Richtungen ist.
(3) Geschichte der Soziologie
Zu einem umfassenden Programm der historischen Rekonstruktion der Entwicklung unseres Faches gehören vor allem: Vorläufer und Klassiker soziologischen Denkens und empirischen Forschens, die Ideen- und Problemgeschichte der Soziologie und ihrer Traditionen in der Weiterführung klassischer Theorien und Methoden im Zusammenhang mit der Sozialgeschichte und der Geschichte sozialwissenschaftlicher Institutionen sowie den Biographien von Soziologen. Hier geht es darum, einen Überblick über die historische Entwicklung der internationalen und der deutschen Soziologie zu verschaffen, sowie die vertiefte Kenntnis mindestens zweier "Klassiker" des internationalen soziologischen Denkens zu vermitteln. Eine zusätzliche Bedeutung erhält hier die Geschichte der empirischen Sozialforschung und die Kenntnis "klassischer" Studien unterschiedlicher Methodik.
Umsetzung in Lehrveranstaltungen
Im Zentrum des Lehrangebots der Allgemeinen Soziologie steht das auf drei Semester angelegte Programm "Soziologische Theorien“ (insgesamt 12 SWS), durch das Kenntnisse aus allen genannten Themenbereichen der Allgemeinen Soziologie vermittelt werden:
„Soziologische Theorien I“ behandelt im wesentlichen handlungstheoretische Entwürfe in der Soziologie (4 SWS), „Soziologische Theorien II“ behandelt im wesentlichen systemtheoretische und gesellschaftstheoretische Entwürfe (4 SWS), „Soziologische Theorien III“ behandelt besonders prominente intermediäre Entwürfe in der theoretischen Soziologie (4 SWS).
Mit diesem Theorie-"Paket" werden sämtliche Inhalte abgedeckt, die in der Studienordnung unter der Überschrift "Grundzüge der Soziologie" aufgeführt werden: Konkret heißt das, daß bei der Behandlung der genannten drei soziologischen Theoriegruppierungen jeweils auch deren Stellung in den derzeit relevanten Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien und im derzeit national und international als relevant diskutierten System Soziologischer Theorien vorgestellt werden. Dabei wird ganz besonderes Gewicht gelegt auf die Einordnung in die Geschichte der Soziologie, wobei nicht nur der Erörterung zentraler Konzepte und Begriffe große Bedeutung eingeräumt wird, sondern insbesondere deren Vermittlung und Umsetzung in ausgewählten, repräsentativen Beispielen der empirischen Sozialforschung behandelt wird.
Literaturangaben
a) Zu Soziologische Theorien
Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main / New York.
Korte, Hermann und Bernhard Schäfers, Hrsg. (1995): Einführung in Hauptbegriffe der Soziologie. 3. Aufl. Opladen.
Mikl-Horke, Gertraude (1994): Soziologie. Historischer Kontext und soziologische Theorie-Entwürfe. 3. Aufl. München / Wien.
Treibel, Annette (1997): Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. 4. Aufl. Opladen.
b) Zur Geschichte der Soziologie
Kaesler, Dirk, Hrsg. (1999): Klassiker der Soziologie. München.
Korte, Hermann (1995): Einführung in die Geschichte der Soziologie. 3.Aufl. Opladen.